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Suizidprävention und Krisenintervention

Am 10. September ist Internationaler Tag der Suizidprävention. Im Frühjahr hat das Bundesministerium für Gesundheit die Nationale Suizidpräventionsstrategie vorgestellt. Dr. Peter Orzessek ist Psychologischer Psychotherapeut und hauptberuflich im Sozialpsychiatrischen Dienst in Oldenburg tätig. Krisenintervention im Zusammenhang mit Suizidalität gehört zu seinem Alltag. Im Interview erklärt er, warum Suizidprävention auch im gesamtgesellschaftlichen Kontext betrachtet werden muss und was es für eine effektive Umsetzung braucht.

Lieber Herr Dr. Orzessek, wie viele Suizide und Suizidversuche gibt es in Deutschland pro Jahr?

In den letzten zehn Jahren lag die Zahl der Suizide ungefähr bei 10 000 pro Jahr. Die Zahl der Suizidversuche wird nicht fest erhoben. Da muss man aber sicherlich vom Zehn- bis Zwanzigfachen ausgehen.

Haben sich die Zahlen über die Jahre verändert? Und wenn ja, woran liegt das?

Die Suizidsterblichkeit hat sich seit 1981 halbiert. Die Ursachen sind nicht gänzlich klar, weil Suizide keine einfache Ursache haben, sondern multifaktoriell sind. Es dürfte auf jeden Fall auch daran liegen, dass wir mit der Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen weitergekommen sind und sich mehr Menschen in Behandlung begeben. Gerade im Bereich der Depressionen ist viel Aufklärungsarbeit passiert, z.B. bei Hausärzt*innen, sodass mehr Menschen mit Depressionen und depressiven Störungen erkannt werden und eine Behandlung erhalten. Aber man muss auch feststellen, dass wir 9.215 Suizide im Jahr 2021 hatten und 2022 10.119, also fast 1.000 mehr. Für 2023 müssen wir von einem ähnlich hohen Niveau ausgehen. Ob diese Entwicklung als Nachgang der Pandemie gesehen werden muss, lässt sich nur vermuten. Man muss genau beobachten, ob der positive Trend der letzten 40 Jahre so bleibt oder sich gerade etwas verändert.

Wie sieht es im internationalen Vergleich aus?

Dazu betrachtet man die Suizidrate, also wie viele Menschen pro 100.000 Einwohner sterben. Deutschland liegt hier im unteren Mittelfeld. Laut Statistischem Bundesamt haben zumindest bei den G7-Staaten vor allem die USA und Japan eine deutlich höhere Suizidrate. Italien jedoch hat eine noch geringere Rate als Deutschland. Abseits der G7 haben Südafrika und die Russische Föderation eine sehr hohe Suizidrate.

Sie arbeiten in einem Sozialpsychiatrischen Dienst. Wie sieht Krisenintervention bei Ihnen aus? Können Sie mal einen Ablauf skizzieren, wie so eine Intervention abläuft?

Vorab muss man betonen, dass die Hilfen, die ein Sozialpsychiatrischer Dienst leistet, ergänzend zu anderen Hilfen zu sehen sind, die es für Menschen mit psychischen Erkrankungen gibt – d.h. ergänzend zu einer ambulanten oder stationären Krankenbehandlung. Wir ersetzen nicht die Regelpsychotherapie, so wie sie niedergelassene Praxen leisten oder im stationären Rahmen geleistet wird. Unsere Aufgabe ist vor allem die Gesprächsintervention, die Vernetzung mit anderen Hilfeanbietern und auch die Vermittlung in die Regelversorgung. Im Sozialpsychiatrischen Dienst sind wir insbesondere für Menschen mit schweren Krankheitsverläufen zuständig, die in der Regelversorgung noch keine Hilfe gefunden haben oder dort nicht ausreichend Hilfe finden, weil sie vielleicht einen ganz komplexen Hilfebedarf haben.

Wir arbeiten interprofessionell, also dass verschiedene Berufsgruppen aus den Bereichen Psychologie, Psychotherapie, Medizin, Sozialarbeit, Pflege und Verwaltung zusammen agieren. Wenn wir davon ausgehen, dass eine Person Hilfebedarf hat, aber nicht in der Lage ist, sich selbst Hilfe zu suchen, dann machen wir auch unangekündigte Hausbesuche. Das ergibt sich dann aus Meldungen von Dritten. Es ist nämlich oft so, dass sich nicht die Betroffenen selbst melden, sondern eher das Umfeld. Das können Angehörige, Nachbarn, Mitbewohner*innen, manchmal Arbeitskolleg*innen sein. Gelegentlich meldet sich auch der Hausarzt oder die Hausärztin, weil er oder sie sich Sorgen um eine*n Patient*in macht, wo eine psychische Erkrankung vermutet wird oder schon diagnostiziert wurde. Im nächsten Schritt gucken wir zunächst, ob uns die betroffene Person eventuell bereits bekannt ist. Denn wenn ja, dann gibt es bereits eine*n Ansprechpartner*in bei uns im Dienst, der oder die schon weiß, was helfen könnte und was nicht.

In der Krisenintervention wird möglichst zeitnah Kontakt zur hilfebedürftigen Person aufgenommen, z.B. zunächst telefonisch. Es kann auch sein, dass wir die Person per Brief oder Mail einladen oder uns zu einem Besuch anmelden. Aber wir machen auch unangekündigte Hausbesuche. Das ist abhängig von der Akuität und davon, was die Person zulassen kann oder nicht. Und dann geht es um Fragen der Diagnostik, ob bereits eine Diagnose bekannt ist oder noch gestellt werden muss. Bei letzterem sind Psychotherapeut*innen und Ärzt*innen gefordert – zusätzlich zu unserer größten Berufsgruppe, den Sozialarbeiter*innen.

Je nach Lage des Einzelfalls erfolgen die einzelnen Interventionen, also von Entlastungsgesprächen über das Aufzeigen weiterer Perspektiven bis hin zum Versuch, für bestimmte Entscheidungen Zeit zu gewinnen. Auch die Vermittlung ins Hilfesystem gehört dazu. Wenn es ambulant nicht geht, helfen wir eine stationäre Aufnahme in die Wege zu leiten. Bis hin zur letzten Konsequenz, wenn keine anderen Hilfen greifen, aber eine gegenwärtige Gefahr z. B. durch Suizidalität fortbesteht, wird die Prüfung einer Unterbringung, die sogenannte Zwangseinweisung, auf den Weg gebracht. Das versuchen wir aber zu vermeiden – es geht immer darum, dass es möglichst nicht zu diesem Schritt kommt.

Das Thema Suizidassistenz spielt ja auch eine Rolle in der öffentlichen Diskussion. Die BPtK schreibt in einer Stellungnahme: „Suizidprävention sollte leichter zugänglich sein als Suizidassistenz“. Wie beurteilen Sie diese Aussage?

Das sehe ich auch so. Wir wissen, dass 80 bis 90 Prozent der Menschen, die an einem Suizid verstorben sind, auch eine psychische Erkrankung hatten. Das bedeutet, dass  Suizidalität eigentlich fast immer als die akute Krise auf dem Boden einer psychischen Erkrankung verstanden werden kann. Wir müssen also in erster Linie sehen, dass diese Menschen die notwendige Behandlung bekommen, in der die Suizidalität gut in den Griff bekommen werden kann. Das gilt auch für Personen, die eine schwere, tödlich verlaufende körperliche Erkrankung mit Schmerzen haben – ich habe schon oft Patient*innen gesehen, die akut suizidal waren, aber bei einer effektiven Schmerzbehandlung keine Suizidgedanken mehr hatten, weil sie nicht mehr so leiden mussten und sich der letzten Lebensphase anders stellen konnten.

Als Psychotherapeut*innen sollen und müssen wir die Autonomie eines Patienten respektieren, wir müssen aber auch Schaden minimieren. Unsere Pflicht ist es, im Rahmen unserer Möglichkeiten die zugrundeliegende psychische Erkrankung zu lindern oder zu heilen. Deswegen sehe ich es auch so: Suizidprävention muss an erster Stelle stehen und die Möglichkeit der Behandlung. Darauf sollten wir uns als Berufsgruppe konzentrieren.

Sehen Sie also auch berufsethische Konflikte bei der Suizidassistenz?

Möglicherweise wenn es um das Respektieren der Autonomie geht. Dass wir mit der Krisenintervention oder mit einer Zwangseinweisung diese Autonomie verletzen. Aber: Für mich steht dem das Mindern des Schadens gegenüber und dass wir es mit Menschen zu tun haben, die einen Wunsch haben, ihr Leben zu beenden und dass dies nicht losgelöst von ihrer psychischen Erkrankung betrachtet werden kann und in der Gesamtheit gesehen werden muss. Und die meisten Menschen, die von einem Suizidversuch abgehalten wurden, versterben später tatsächlich nicht an einem Suizid. Das kann uns also Mut machen, zu handeln. So löst sich ein möglicher berufsethischer Konflikt vielleicht auf.

Das Bundesgesundheitsministerium hat im Frühjahr eine Nationale Suizidpräventionsstrategie vorgelegt. Wie beurteilen Sie die Strategie und was wäre nötig für eine effektive Umsetzung?

So wie ich die Strategie verstehe, geht es um drei Handlungsfelder: Gesundheitskompetenz, psychosoziale Beratung sowie Vernetzung und Koordination. Um diese Bereiche muss es auch gehen, wenn man es umfassend angehen will. Die Strategie schlägt vor, eine nationale Kompetenz- und Koordinierungsstelle einzurichten. Und genau diese wird es brauchen, weil die Zuständigkeiten im Bereich Suizidprävention sich über den Bund, die Länder und die Kommunen erstrecken. Dazu haben wir Aktivitäten der Kammern sowie der Leistungsträger und -anbieter. Die Telefonseelsorge hat zum Beispiel ihre Wurzeln in der Suizidprävention. Und diese Akteure müssen alle miteinander ins Gespräch kommen, um einen gemeinsamen Handlungsstrang zu verfolgen. Vieles in dieser Strategie hängt aus meiner Sicht am Start der Koordinierungsstelle, und dieser ist mir noch nicht ganz klar. Wichtig ist aus meiner Sicht aber auch, dass es eine Betroffenen-Beteiligung gibt und auch die Forschung und Evaluation entsprechend berücksichtigt werden.

Gleichzeitig sollte die Strategie mit der Reform der Notfallversorgung verknüpft werden. Wenn die Reform umgesetzt wird, die die integrierten Notfallzentren an den Kliniken schaffen soll, in Kombination mit dem ärztlichen Notdienst, da dürfen die Menschen mit psychischen Erkrankungen, Suizidgedanken und psychiatrischen Notfällen nicht vergessen werden.

Suizidprävention ist auch als Querschnittsthema in der gesamten Gesellschaft zu sehen. An welchen Punkten können Prävention, Intervention und Rehabilitation ansetzen?

Wir müssen Prävention wirklich im Großen verstehen. Beginnend mit universeller Prävention, also Aufklärung über psychische Erkrankungen und Gesundheit. Am besten schon früh in der Schule. Es gibt auch Bemühungen, dass Bürger*innen seelische erste Hilfe lernen können, sprich: wie gehe ich auf jemanden zu, der in einer psychischen Krise ist? Wir brauchen ausreichende Behandlungskapazitäten für psychisch kranke Menschen, damit die Grunderkrankung behandelt werden kann.

Methoden-Restriktion ist davon auch ein Teil, d.h. Suizid-Hotspots wie Brücken oder Gebäude zu sichern, indem beispielsweise der Zugang verwehrt wird oder ein Gitter angebracht wird. Das verhindert effektiv Suizide, denn suizidgefährdete Menschen, die sind häufig sehr eingeengt – nicht nur auf das Leid und die vermeintliche Lösung durch Suizid – sondern auch auf ihre Methode. Eine andere Methode, sei es schon ein anderes Gebäude, kommt wegen dieser Einengung dann nicht infrage. Oft ist dann schon zeitlich die „Zuspitzung“ vorbei. Deswegen ist die Methoden-Restriktion so wirksam. Das kann auch die Verfügbarkeit von Medikamenten sein oder schon die Packungsgrößen von Medikamenten, die für den Zweck geeignet wären.

Risikogruppen müssen gesehen werden. Männer haben ein deutlich höheres Risiko als Frauen, an einem Suizid zu versterben und alleinstehende Menschen auch. Wir müssen die älteren Menschen im Blick behalten, weil bei diesen das Suizidrisiko am größten ist, aber auch die ganz jungen Menschen, wo Suizid die zweithäufigste Todesursache ist. Die Hinterbliebenen dürfen nicht vergessen werden. Jugendliche müssen von den Eltern und Lehrer*innen im Blick behalten werden. Pflegedienste, Hausärzte und Co. müssen ausreichend fortgebildet sein, um die notwendigen Hilfen einzuleiten. Aber auch Polizisten, Taxifahrer, Busfahrer zum Beispiel, müssen sensibilisiert werden – dass Menschen, die sich im öffentlichen Raum auffällig verhalten, z.B. in gebundener Körperhaltung an einer Brücke oder Bahngleisen stehen, gemeldet werden oder ggf. sogar angesprochen werden. Denn allein eine Ansprache kann eine Einengung auflösen – deshalb sind die Ideen von seelischer erster Hilfe richtig gut. Damit man eine gewisse Zivilcourage entwickelt, jemanden Fremdes anzusprechen, dem es offensichtlich nicht gut geht.

Und insgesamt brauchen wir eine bessere psychiatrische, ambulante und psychotherapeutische Notfallversorgung, damit Menschen in akuten Situationen unverzüglich Hilfe bekommen. Und im Bereich Rehabilitation braucht es nach einem Suizidversuch gute Unterstützung, für Betroffene und für Hinterbliebene.

Was möchten Sie Ihren Kolleg*innen zu diesem Thema gerne noch mitteilen?

Ich finde wichtig, dass man als Psychotherapeut*in die eigene Haltung zu dem Thema gut geklärt hat. Und wenn man eigene Erfahrungen damit hat, z.B. eigene suizidale Gedanken schon einmal hatte, oder Angehörige oder Bekannte an einem Suizid verstorben sind, dass man sich mit diesen Erfahrungen gut auseinandergesetzt hat. Damit es in der Arbeit mit den Patient*innen nicht im Wege steht. Wichtig ist auch, sich in diesem Bereich, wie in anderen auch, regelmäßig fortzubilden. Für die praktische Arbeit mit den Patient*innen finde ich es wichtig, aktiv Suizidgedanken zu erfragen, das nicht wegzulassen. Die Patient*innen müssen das Unaussprechliche bei uns aussprechen dürfen. Das ist schon die wichtigste Intervention. Neben der Behandlung der Grunderkrankung und spezieller Interventionen im Bereich Suizidalität sollte man bei Risikopatient*innen besonders wachsam sein.

Mit Patient*innen, die suizidal sind, können Non-Suizidvereinbarungen getroffen oder ein Krisenplan erarbeitet werden, damit sie wissen, was sie in Zuspitzungs-Situationen selbst tun können. Und insgesamt ist es wichtig, dass man sich mit anderen Akteuren im Hilfesystem vernetzt, mit anderen Berufsgruppen und Behandler*innen. Bei sich selbst vor Ort sollte man wissen: Wie funktioniert in letzter Konsequenz eine Zwangseinweisung? Damit man dann nicht erst mit der Recherche anfangen muss, sondern im Notfall sicher weiß, an wen man sich wenden muss.

Das Gespräch führten Gina Briehl und Daniel Nowik.

Wenn Sie selbst Suizidgedanken haben oder bei einer anderen Person wahrnehmen: Kostenfreie Hilfe bieten in Deutschland der Notruf 112, die Telefonseelsorge 0800/1110111 und das Info-Telefon Depression 0800/3344 533. Weitere Infos und Adressen unter www.deutsche-depressionshilfe.de.