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Kinderschutzgesetz – ein Thema für Psychotherapeut*innen?

Am 01.01.2012 ist das Gesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen (Bundeskinderschutzgesetz – BKiSchG) in Kraft getreten. Schon mit Einführung des § 8a SGB VIII  (8. Buch Sozialgesetzbuch – Kinder- und Jugendhilfe) im Jahr 2005 hatte der Gesetzgeber den Schutzauftrag der Jugendhilfe präzisiert. Erhebungen weisen darauf hin, dass die Zahl der von Vernachlässigung bedrohten Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft stetig zunimmt. Die Anzahl der In Obhut genommenen bzw. aus der Familie herausgenommenen Kinder steigt seit 2005 kontinuierlich an. Bei Kindern bis zu drei Jahren hat sie sich nahezu verdoppelt. (Quelle: Bundesamt für Statistik, Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe 2012)

Präventionsprogramme unterstützen Eltern

Der staatliche oder gesellschaftliche Schutz eines Kindes beginnt natürlich nicht erst mit seiner Herausnahme, wenn es sonst einer akuten oder anhaltenden Gefahr der Misshandlung oder Vernachlässigung ausgesetzt wäre, sondern erheblich früher. Kinderschutz ist der eine Pol eines Kontinuums, an dessen anderen Ende sich diverse Präventionsprogramme (primäre und sekundäre; siehe Anhang, Tabelle 1) befinden, die eine Unterstützung der Eltern bei der Wahrnehmung ihres Erziehungsauftrages zum Ziel haben.  Unter dem Titel „Frühe Hilfen“ gibt es eine breite Palette an Interventionsansätzen, die die elterlichen Kompetenzen zur Förderung einer gesunden Entwicklung ihres Kindes erweitern sollen und Hilfen anbieten, um dafür einen geeigneten Rahmen zu schaffen. Diese Angebote finden sich inzwischen in großer Vielfalt in den unterschiedlichen Regionen des Bundesgebietes. Zum Teil handelt es sich um lokale zeitlich befristete Projekte, andere sind bereits dauerhaft etabliert worden. Der Einsatz von Familienhebammen soll auf Grundlage des Bundeskinderschutzgesetzes nun sogar bundesweit angeboten werden.

Im Sinne der Anwendungsmöglichkeit sekundär präventiver oder weiterer Interventionsangebote ist es notwendig, frühzeitig Gefährdungssituationen zu erkennen, um Hilfen, da wo sie notwendig sind, etablieren zu können. Hier ist eine möglichst frühe Information oder Zuweisung auch durch Multiplikatoren und Fachleute verschiedener Professionen hilfreich. Aus diesem Grund ist die Entwicklung und Etablierung multiprofessioneller verbindlicher Netzwerke ein wichtiges Anliegen des Gesetzgebers.

Möglichkeiten der Intervention

Bewegt man sich auf dem erwähnten Kontinuum der Schutzmaßnahmen ausgehend von den primär-  und sekundärpräventiven Angeboten über die freiwillige Inanspruchnahme nicht-antragspflichtiger oder antragspflichtiger Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe (siehe Anhang, Tabelle 2) weiter, so kommt man in den Bereich der Interventionen, die durch eine gerichtliche Entscheidung veranlasst wurden bis hin zur Inobhutnahme oder sogar dem Entzug der elterlichen Sorge. Die Grundlage für eine nicht freiwillige Hilfsmaßnahme, die einen staatlichen Eingriff in das Elternrecht darstellt, ist dann gegeben, wenn eine Misshandlung oder Vernachlässigung vorliegt, oder „Gefahr für Leib und Leben des Kindes“ besteht. Im Falle einer bereits eingetretenen oder drohenden Vernachlässigung, Misshandlung oder bei sexuellem Missbrauch sind die bereits angesprochenen Maßnahmen der Inobhutnahme oder Herausnahme des Kindes aus der gefährdenden Situation mitunter die einzige Möglichkeit, den Schutz des Kindes zu realisieren.  Diese kann für die Dauer bis zu 48 Stunden durch das Jugendamt vorgenommen werden und bedarf danach – wenn sie fortgesetzt werden soll und ohne das Einverständnis der Sorgeberechtigten initiiert wurde – einer gerichtlichen Entscheidung.

„Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko … einzuschätzen. …“ So beginnt der Wortlaut des § 8a SGB VIII, der den staatlichen Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung beschreibt. Dabei handelt es sich bei einer solchen Kindeswohlgefährdung um „eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt“. (BGH FamRZ 1956, 350 = NJW 1956, 1434)

Aus der Definition lassen sich drei für die Beurteilung und daraus folgende Handlungen relevante Aspekte ableiten:

  • es ist von der Gefahr einer vorauszusehenden Schädigung die Rede (die Schädigung muss also noch nicht eingetreten sein)
  • diese Schädigung muss erheblich und mit ziemlicher Sicherheit vorhersehbar sein (das staatliche Eingriffsrecht wird begrenzt),
  • eine individuelle Bewertung hinsichtlich der Sicherheit dieser Prognose ist notwendig.

Für die Einschätzung dieses Gefährdungsrisikos hat der Gesetzgeber im gleichen Paragrafen die „in Fragen des Kindesschutzes insoweit erfahrene Fachkraft“ als beratende und prozessbegleitende, d. h. in der Abwägung einer Gefährdungssituation unterstützende Fachkraft benannt, die bislang den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe zur Verfügung gestellt wurde.

Anspruch auf Unterstützung

Durch das Bundeskinderschutzgesetz ist dieses Angebot nun auch auf außerhalb des Systems der Kinder- und Jugendhilfe tätige Berufsgruppen, die im Kontakt mit Kindern und Jugendlichen stehen, erweitert worden. Und auch wenn man aus der Arbeit mit Eltern oder Bezugspersonen von Kindern Informationen über die vorhandene oder drohende Gefährdung des Wohles von Kindern erhält, besteht ein Anspruch auf Unterstützung, will man diesen Hinweisen nachgehen. Der Gesetzgeber räumt diesen Berufsgruppen, zu denen auch  die Psychologischen Psychotherapeut*innen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen gehören, einen Rechtsanspruch auf Beratung gegenüber dem örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe ein.

In einer vom Verfasser im Jahr 2006 – also vor Inkrafttreten des Bundeskinderschutzgesetzes – selbst durchgeführten Erhebung der Verfahrensweise in Kinderschutzfragen kritisierten Kinderärzte und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen, dass sie bei Anrufen im Jugendamt mit der Forderung konfrontiert gewesen seien, Auskünfte über die betroffenen Personen zu machen, die Anlass für das Ersuchen um Unterstützung hinsichtlich einer Gefährdungseinschätzung waren. So waren die Anfragenden in der misslichen Lage, noch vor Erhalt von Unterstützung zu entscheiden, ob sie die Gefahr für so gravierend betrachten, dass eine Befugnis für die Datenweitergabe besteht und eine Verletzung der Schweigepflicht dadurch zu rechtfertigen wäre.

Anonyme Beratung möglich

Für diese Problematik hat der Gesetzgeber nun ein Lösungsangebot bereitgestellt. Die Inanspruchnahme einer „insoweit erfahrenen Fachkraft“ ist kostenfrei und erfolgt anonym, also ohne die Notwendigkeit, Angaben zu den Daten der betroffenen Personen zu machen. Sie dient der Beratung und Unterstützung bei der Gefährdungsabschätzung und  bei Überlegungen zur eigenen weiteren Handlungsweise. Die Verantwortung und Entscheidung bleibt bei der anfragenden Fachkraft (also z. B. dem/der PP/KJP) selbst.

Rolle und Qualifikation der insoweit erfahrenen Fachkraft sind bisher jedoch nicht abschließend und verbindlich beschrieben. Es wird einerseits  auf langjährige Tätigkeit im Bereich von Kinderschutzfragen und Arbeit mit Familien abgehoben, andererseits die Notwendigkeit spezieller durch Fortbildung zu erwerbender Expertise hingewiesen. Eine hohe Beratungskompetenz und Rollenklärung erscheinen unabdingbar. Der aktuelle Fortbildungsmarkt bietet diverse z.T. curriculare Angebote unterschiedlichen Umfangs durch verschiedene Anbieter, die mal mit, mal ohne Zertifikat abschließen, wobei allgemein gültige Bedingungen für eine Zertifizierung bislang fehlen. Es bleibt abzuwarten, ob sich diese etwas unübersichtliche Situation zukünftig klären wird. Ein Beratungsangebot durch qualifizierte Fachkräfte sollte also schon jetzt gewährleistet sein, seine verbindlich geregelte Qualität ist es wohl noch nicht.

Das durch das Bundeskinderschutzgesetz neu geschaffene Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) regelt auch die nach dem Feststellen einer gefährdenden Situation mögliche Weitergabe von Informationen an das Jugendamt. Der Gesetzgeber hat hier ein mehrstufiges Vorgehen vorgesehen.

  • Erörterung der Situation mit Kindern/Jugendlichen und ihren Personensorgeberechtigten,
  • Hinwirken auf die freiwillige Inanspruchnahme von Hilfen,
  • Beratung durch eine „insoweit erfahrene Fachkraft“
  • Befugnis zur Weitergabe von Informationen an das Jugendamt.

Dabei ist zu beachten, dass das Einbeziehen des Kindes oder der Personensorgeberechtigten nur dann erfolgen soll, wenn der notwendige Schutz des Kindes oder des Jugendlichen dadurch nicht in Frage gestellt wird.

Für Psychotherapeuten ergibt sich in solchen Fällen oft die Situation, nicht nur hinsichtlich der Einschätzung der Gefährdung des betroffenen Kindes eine Abwägung vorzunehmen, sondern auch eine Güterabwägung zwischen der Gefährdung des betroffenen Kindes einerseits und der Auswirkung auf die therapeutische Beziehung andererseits, z. B. wenn die Patienten mit einem solchen Verdacht konfrontiert werden. Diese sicherlich komplexe und auch verfahrensspezifisch zu betrachtende Problematik soll an dieser Stelle nicht vertieft werden. Es soll aber auf die auch für solche Konflikte oder Abwägungen bewährte Möglichkeit der Bearbeitung in der (kollegialen) Supervision hingewiesen werden. Im Sinne des Gesetzes sind – wenn möglich – einvernehmliche Lösungen unter Beteiligung der betroffenen Personen anzustreben. Das gilt auch für den Umgang mit Informationen. Der vermeintlich „Königsweg“ liegt also auch hier in der durch Entbindung von der Schweigepflicht vorgenommenen Weitergabe von Informationen.  Das dient in aller Regel auch dem Fortbestand und der Qualität der therapeutischen Beziehung. Sollte das nicht möglich sein, sind aber die Bedingungen, die bei einer Abwägung dieses Schrittes zu berücksichtigen sind, wenn er ohne oder sogar gegen den Willen der Betroffenen gegangen werden soll, klar dargelegt.

Das Gesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen präzisiert die Bedingungen und Abläufe der Weitergabe von Daten, wenn ein Kind in Gefahr ist. Gleichzeitig stellt es Berufsgruppen, die mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt stehen, ein Beratungsangebot zur Verfügung, dass bei der Gefahrenabschätzung und Vorgehensweise prozessbegleitend wirken soll. Damit ist das Gesetz sowohl für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten/innen als auch für Psychologische Psychotherapeuten/innen, die in eigener Praxis tätig sind und selbstverständlich auch für angestellte Kolleginnen und Kollegen durchaus relevant. Übrigens für einige nicht zuletzt deswegen, weil sie als Beschäftigte in der Jugendhilfe selbst die Funktion einer „insoweit erfahrenen Fachkraft“ ausüben.

Autor: Jörg Hermann

Literatur

  • Renner I., Sann A. – Nationales Zentrum Frühe Hilfen (Hg.): Forschung und Praxisentwicklung Früher Hilfen, Köln 2010
  • Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (HG.): Sozialgesetzbuch VIII auf dem Stand des Bundeskinderschutzgesetzes – Gesamttext und Begründungen, Berlin 2012
  • Kindler H., Lillig S., Blüml H., Meysen T. & Werner A. (Hg.) (2006). Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD). München: Deutsches Jugendinstitut e.V.

 

Anhang

Tabelle 1: Präventionsprogramme

Beispiele von Präventionsprogrammen, die sich an alle Eltern richten (primäre Prävention)

  • Elternbriefe: Informationsschreiben für Eltern zu speziellen Themen des jeweiligen Entwicklungsalters des Kindes
  • Baby-Begrüßung: Zusendung eines Begrüßungs-Schreibens des Babys mit Angebot eines Hausbesuchs und Übergabe von Informationsmaterial und einem Geschenk

Beispiele von Präventionsprogrammen, die sich aufgrund vorhandener Belastungen oder Risiken (z. B. Teenie-Mütter, soziale oder psychische Belastungsfaktoren, Suchterkrankungen) an ausgewählte Eltern richten (sekundäre Prävention)

  • Einsatz von Familienhebammen: aufsuchende Betreuung von Eltern und Kind durch besonders qualifizierte Hebammen bis zum vollendeten 1. Lebensjahr des Kindes
  • STEEP: kombiniertes Gruppen- und aufsuchendes Video-gestütztes Einzelangebot für Eltern mit dem Ziel der Etablierung einer sicheren Bindung bis zur Vollendung des 2. Lebensjahres des Kindes

 

Tabelle 2: Jugendhilfeleistungen nach §27 SGB VIII

  • Leistungen ohne Antragspflicht:

Erziehungsberatung

  • Leistungen, die einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung als Grundlage haben:

Soziale Gruppenarbeit, Erziehungsbeistandschaften, sozialpädagogische Familienhilfe, Erziehung in einer Tagesgruppe, Vollzeitpflege, Heimerziehung

Ein Antrag auf Hilfe zur Erziehung führt zu einem sogenannten Hilfeplanverfahren, in dem zunächst eine möglichst passgenaue Hilfe ausgewählt und etabliert wird, die dann im Rahmen von Hilfeplangesprächen unter Einbeziehung der Familien und der Leistungsanbieter begleitet und auf ihre Wirkung kontrolliert wird.