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Depressionen – eine heilbare Krankheit (Teil 2)

Depressionen sind eine weit verbreitete Krankheit: Man geht davon aus, dass zehn Prozent der Frauen und sechs Prozent der Männer in Deutschland an einer Depressionen leiden, also etwa sieben Millionen Menschen. Im zweiten Teil des Interviews erklärt Roman Rudyk, Präsident der Psychotherapeutenkammer Niedersachsen, wie man betroffene Menschen in seinem Umfeld unterstützen kann.

Herr Rudyk, im ersten Teil unseres Interviews sprachen wir über die Krankheit Depressionen und wie sie behandelt werden kann. Jetzt würde ich gerne wissen, wie es möglich ist, als Mitmensch Betroffene zu unterstützen. Wenn ich das Gefühl habe, dass in meinem näheren Umfeld – Familie, Arbeitskollegen, Freunde – jemand an Depressionen erkrankt ist: Wie sollte ich reagieren?

Menschen, die an Depressionen erkranken, ziehen sich oft aus ihren sozialen Kontakten zurück, teils aus Antriebslosigkeit, teils aus dem Gefühl, sie wären für ihre Umwelt belastend. Wenn ich das in meinem Umfeld beobachte, sollte ich versuchen, in Kontakt zu bleiben und nicht zu schnell denken, dass derjenige einfach seine Ruhe haben will oder mich nicht mehr mag. Zieht sich jemand länger aus dem Kontakt zurück und ich habe gleichzeitig das Gefühl, ihr oder ihm geht es nicht gut, dann sollte ich auch an die Möglichkeit denken, dass jemand depressiv erkrankt ist und nicht wirklich den Kontakt abbrechen will, aber keinen Weg mehr findet, ihn von sich aus aufrechtzuerhalten.

Was kann ich als Freund oder Freundin konkret machen?

Wenn ich merke, dass ich mir Sorgen mache, sollte ich diese Sorgen auch ernst nehmen und weiter den Kontakt suchen. Das kann schwierig sein, es wird wichtig sein für die Freundschaft. Außerdem kann es dafür wichtig sein, dass die Betroffenen Unterstützung dabei bekommen, sich Hilfe zu holen – allein schaffen sie es häufig nicht.

Wie weit darf ich unterstützen? Früher hieß es immer, der Erkrankte muss sich sämtliche Hilfe selbst holen, sonst hätte er keine Chance, gesund zu werden. Wenn aber jemand ernsthaft an Depressionen erkrankt ist, hat er doch gar nicht mehr die Kraft, sich eigenständig Hilfe zu holen?

Das muss man etwas differenzierter betrachten: Ich kann jemanden dabei unterstützen, sich Hilfe zu holen – oder ich kann es ihm abnehmen. Doch indem ich es ihm abnehme, kann sich die Situation verschlimmern. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein depressiver Mensch auf eine Therapie einlässt, wenn jemand anderes die Termine vereinbart hat, ist geringer, als wenn sie oder er diese selbst gemacht hat. Manche Menschen könnten sich sogar abgelehnt oder abgeschoben fühlen, wenn man sie in eine Behandlung schicken will.

Aber ich kann Therapeuten oder Anlaufstellen heraussuchen und sagen: „Guck  mal, hier sind ein paar Nummern, wollen wir da mal gemeinsam anrufen?“

Genau. Man kann praktische Hilfe leisten, indem man die Betroffenen durch das Dickicht der Psych-Angebote lotst. So kann ich zum Beispiel die Sprechzeit und Telefonnummer einer psychotherapeutischen Praxis heraussuchen und mich dann gemeinsam ans Telefon setzen. Also praktisch und moralisch unterstützen. Wenn ich selbst nicht so genau weiß, wie ich helfen kann, kann ich natürlich als Angehöriger oder Freund auch selbst erstmal anrufen, um die Situation zu erklären und zu fragen, was ich jetzt unterstützend machen kann.

Was ist, wenn jemand Hilfe sucht, aber diese nicht bekommt, weil er oder sie keinen Therapeuten findet? Wo kann so jemand akut und unkompliziert dennoch Hilfe finden?

In einer psychischen Notlage, zum Beispiel in einer suizidalen Krise oder bei einer Realitätsverkennung, also einer Psychose, melde ich mich zuerst bei der Stelle, bei der ich in Behandlung bin oder mit ähnlichen Erkrankungen schon war. Gibt es die nicht, dann kann man sich grundsätzlich auch an einen Hausarzt oder Psychiater wenden. Außerdem bekommt man in solchen Situationen Unterstützung in den Ambulanzen der psychiatrischen Krankenhäuser oder beim sozialpsychiatrischen Dienst.

Bei konkreter Gefahr, wenn man wirklich nicht mehr weiter weiß und eventuell im Gedanken bereits konkret einen Suizid plant, sollte man auf jeden Fall den Rettungsdienst rufen. Denn die gesamte Notfallversorgung, die es für somatische Erkrankungen gibt, greift grundsätzlich auch bei schweren psychischen Erkrankungen. Allerdings sollte man anschließend möglichst schnell versuchen, eine Weiterbehandlung in einer entsprechenden Fachrichtung zu bekommen.

Wenn ich durch eigenständiges Telefonieren keinen Therapeuten finde, kann mir dann die Terminservicestelle weiterhelfen?

Sicher kann ich mich in so einer Situation an die Terminservicestelle wenden; allerdings ist es kein Geheimnis, dass die Möglichkeiten dort auch begrenzt sind. Leider können die Psychotherapeuten, wenn sie keine Kapazitäten haben, auch keine weiteren Stunden. Wenn es dennoch klappt, über die Servicestelle einen Termin zu bekommen, dann ist das umso besser. Allerdings muss ich dafür dann manchmal auch weitere Wege in Kauf nehmen.

Kommen depressive Phasen denn so überraschend, dass ich jetzt sofort einen Therapeuten brauche?

Seelische Erkrankungen äußern sich selten ad hoc in einer akuten Krise. In der Regel sind das Prozesse, die länger andauern. Wenn es einem zwei Wochen lang schlecht geht, man sehr niedergeschlagen ist und mit dem Schicksal hadert, dann können das ganz stimmige Reaktionen der Seele sein auf eben sehr belastende Ereignisse, doch dann spricht man nicht von einer Depression. Sicherlich ist es stets gut, wenn man mit jemandem spricht, versucht im Kontakt zu bleiben.

Wenn man sich hingegen bereits seit Monaten oder gar Jahren quält, dann kommt es wiederum weniger darauf an, dass man jetzt sofort – also innerhalb von zwei Wochen – einen Termin in einer psychotherapeutischen Praxis zu bekommen, selbst wenn der Leidensdruck sehr groß ist und das grundsätzlich wünschenswert wäre, auch kurzfristig Termine bekommen zu können. Dann ist es wichtiger, bei der Suche nach professioneller Hilfe dranzubleiben und sich nicht von längeren Wartezeiten abschrecken zu lassen. Ein langer Atem und Geduld kann also wichtig sein, solange das Gesundheitssystem nicht ausreichen Behandlungsmöglichkeiten schafft, was natürlich die zentrale Forderung bleiben muss.

Gleichzeitig wird es gerade depressiv erkrankten Menschen schwer fallen, dieses eben beschriebenen Dranbleiben bei der Hilfesuche zu bewerkstelligen. Die Antriebslosigkeit und das Minderwertigkeitsgefühl, dass man es nicht verdiene, dass jemand einem hilft, gepaart mit dem Gefühl, dass es nutzlos ist, da einem sowieso niemand helfen könne, stehen den Erkrankten im Weg. Das ist so eine Situation, in der Angehörige oder Freunde gefragt sind: zu unterstützen, sodass der Kranke durchhält.

Wenn mich Patientinnen anrufen und ich Ihnen nicht sofort einen Platz anbieten kann, versuche ich ihnen Mut zu machen. Ich sage ihnen dann: Überlegen Sie mal, wenn Sie sich jetzt abschütteln lassen, haben Sie in einem halben Jahr wieder niemanden. Wenn Sie sich jetzt aber auf eine Warteliste setzen lassen, dann können Sie in sechs Monaten wahrscheinlich mit einer Therapie beginnen. Das wirkt jetzt erstmal sehr lang, aber dann haben Sie in einem halben Jahr jemanden, der Ihnen helfen kann.

Sollten an Depressionen erkrankte Menschen sich mit ihrer Krankheit allein auseinandersetzen? Oder sollten sie mit ihrem Umfeld sprechen?

Es gibt zwei Kreise von Menschen, die einen umgeben: Familie, Freunde, gute Nachbarn – und  Arbeitskolleginnen und -kollegen.

Mit den Menschen, die einem nahe stehen, sollte man möglichst sprechen. Das entlastet fast immer. Zudem bin ich als Betroffener häufig auf Unterstützung und Verständnis aus diesem Umfeld angewiesen.

Ob man die Krankheit dem Arbeitgeber oder Kollegen gegenüber erwähnen sollte, da wäre ich mit pauschalen Ratschlägen sehr vorsichtig, da es tatsächlich sehr unterschiedlich sein kann. Das muss ich genau abwägen und mich vielleicht beraten lassen. Es gibt dabei auch die Seite der Verantwortung als Kranker. So gibt es berufliche Tätigkeiten, in denen mir Menschen anvertraut sind und ich möglicherweise aufgrund meiner Erkrankung diese Verantwortung nicht mehr in ausreichendem Umfang tragen kann. Dann wäre es sehr wichtig, mit meinen Vorgesetzten und meinem Team zu sprechen, um bestimmte Tätigkeiten vielleicht nicht mehr alleine machen zu müssen, oder aber woanders eingesetzt zu werden.  Es ist nicht immer die beste Lösung, sich gleich krankschreiben zu lassen, auch wenn das manchmal das einzig Sinnvolle zu sein scheint. Vielleicht kann ich auch etwas kürzer treten. Das muss man sehr individuell betrachten. Sicherlich gibt es auch Tätigkeiten, bei denen brauchen weder meine Kollegen noch mein Arbeitgeber zu wissen, dass ich an Depressionen erkrankt bin.

Beim größeren Kreis macht es also durchaus Sinn, sich zu überlegen, wem ich etwas sage und es von der Situation abhängig machen. Den engeren Kreis der Menschen, die unmittelbar mit mir zusammen sind, mit dem sollte ich darüber sprechen, sonst verschlimmere ich wahrscheinlich die Situation unnötig.

Vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch.

Interview: Depressionen – eine heilbare Krankheit (Teil 1)

November 2022. Das Interview führte Franziska Bauermeister.