Startseite » Aktuelles » Experteninterviews » Depressionen – eine heilbare Krankheit (Teil 1)

Depressionen – eine heilbare Krankheit (Teil 1)

Depressionen sind eine weit verbreitete Krankheit: Man geht davon aus, dass zehn Prozent der Frauen und sechs Prozent der Männer in Deutschland an einer Depressionen leiden, also etwa sieben Millionen Menschen. Im Interview erläutert Roman Rudyk, Präsident der Psychotherapeutenkammer Niedersachsen, was die Krankheit auslöst und wie sie behandelt werden kann.

Herr Rudyk, was versteht man unter einer Depression?

Wenn wir von Depressionen sprechen, sind Erschöpfungszustände, Antriebslosigkeit, Minderwertigkeits- und Schuldgefühle sowie Schlaflosigkeit vorhanden.
Leider ist auch Suizidalität ein häufiges Symptom – also Suizidgedanken bis hin zu durchgeführten Suiziden. Das ist das extrem Gefährliche an Depressionen, dass sich Menschen aus dieser Erkrankung heraus möglicherweise das Leben nehmen.

Worin besteht der Unterschied zur depressiven Phase?

Man könnte sagen, dass es eine Frage der Dauer ist. Aber nicht jede Niedergeschlagenheit, Unruhe und Ängstlichkeit oder jedes Gefühl der Wertlosigkeit ist eine depressive Phase. Das sind zwar unangenehme Gefühle, doch sie gehören zum menschlichen Repertoire dazu. Ich glaube, dass es völlig falsch ist dafür sorgen zu wollen, dass man bestimmte Gefühle nicht hat. Denn je reichhaltiger das Repertoire der wahrnehmbaren Gefühle bei einem Menschen ist, desto reicher kann er auch empfinden und Kontakte gestalten.

Wann sollte man handeln und sich professionelle Hilfe holen?

Grundsätzlich sollte man sich dann an eine Psychotherapeutin oder einen Psychotherapeuten wenden,  wenn belastende Gefühle wie Ängste, Antriebslosigkeit, Niedergeschlagenheit oder auch Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen das eigene Denken und Fühlen über einen Zeitraum von mehreren Wochen oder gar Monaten dominiert. Wenn man das Gefühl hat, da fährt sich etwas in Spurrillen fest und ich komme aus eigener Kraft nicht heraus. Das schränkt dann auch fast immer die eigenen Möglichkeiten ein, mit den Mitmenschen in einem lebendigen Austausch zu bleiben. In der Regel entsteht bei den Menschen ein Leidensdruck. Ist der über einen längeren Zeitraum vorhanden, ist eine professionelle Abklärung dringend geboten.

Wie viele Menschen leiden in Deutschland an Depressionen?

Man geht davon aus, dass zehn Prozent der Frauen und sechs Prozent der Männer an einer Depressionen leiden, also etwa sieben Millionen Menschen. Allerdings wäre ich bei den Zahlen etwas zurückhaltender, wenn man sie auf behandlungsbedürftige Depression bezieht. Sie unterscheiden sich auch in verschiedenen Studien und es gibt teils deutliche Unterschiede zwischen den Bundesländern.

Gibt es in einer Altersgruppe, die besonders von Depressionen betroffen ist?

Bei den 45- bis 65-Jährigen wird Depression am häufigsten diagnostiziert. Allerdings schwanken bei über 65-Jährigen die Angaben zur Häufigkeit der Erkrankung zwischen 11 und 26  Prozent.  Wir wissen, dass bei den älteren Menschen häufiger nicht die notwendigen Psychotherapien erfolgen und schneller rein pharmakologische behandelt wird. Vor dem Hintergrund, dass es im Alter im Verhältnis zu anderen Altersgruppen mehr Suizide als Suizidversuche gibt, stellt hier eine Mangelversorgung eine besondere Herausforderung dar.

Warum erkranken ältere Menschen häufig an Depressionen?

Wenn Menschen nicht mehr gebraucht werden, wenn sie aus ihren sozialen Bezügen herausfallen und keine Bestätigung mehr durch Arbeitsleistung haben, wenn sie vereinsamen, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie psychisch erkranken, höher.

Sind Depressionen heilbar?

Ein klares Ja! Depressionen sind heilbar, wobei ein später Behandlungsbeginn und der Schweregrad der Depression die Wahrscheinlichkeit eines chronischen Verlaufs erhöht. Das ist eine große Herausforderung in der psychotherapeutischen Versorgung, dass man durch frühzeitige Behandlung eine Chronifizierung verhindert.

Werden Depressionen individuell behandelt, oder gibt es aus psychotherapeutischer Sicht einen Königsweg?

Alle Psychotherapien sind geprägt von dem Kontakt zwischen Patient*in und Psychotherapeut*in und dadurch immer eine individuell gewählte Behandlungsform. Dabei ist es die Aufgabe der Psychotherapeut*innen in den ersten Gesprächen zu klären, welches Behandlungskonzept stimmig ist und welche Mitbehandlungen erforderlich sind. Grundsätzlich wird gegenwärtig davon ausgegangen, dass mit zunehmender Schwere der Depression eine Kombination zwischen Psychotherapie und Pharmakotherapie erfolgen sollte. Auch weiß man, dass einige Patient*inne mit Kurzzeittherapien kaum Fortschritte machen und dann die Psychotherapie über längere Zeiträume erfolgen sollte.

Wie finden Patienten die richtige Behandlungsmethode für sich?

Im Idealfall sagt der Therapeut bzw. die Therapeutin nach der Sprechstunde – unabhängig von den eigenen erlernten Verfahren – was zu der Erkrankung und für den Patienten am besten passt. Wobei das Gefühl der Passung zwischen Psychotherapeut*in und Patient*in manchmal entscheidender ist als das Verfahren, das auf dem Praxisschild steht. Wir wissen, dass sich in den Anwendungen nicht selten verschiedene Ansätze mischen, was nicht grundsätzlich schlecht sein muss. Sicherlich ist es auch hilfreich, wenn ich mich als Patient im Vorfeld informiere. Auf der Internetseite der Psychotherapeutenkammer Niedersachsen wird beispielsweise relativ einfach erklärt, welche Therapieformen es gibt (Was ist Psychotherapie?). Da kann man dann für sich herausfinden, ob ein Verfahren für einen befremdlich wirkt, oder ob man sich darin wiederfindet.

Wodurch werden Depressionen ausgelöst?

Wir wissen, dass es bei den meisten seelischen Erkrankungen einen genetischen Faktor gibt. Dabei bestimmen diese genetischen Dispositionen nicht unbedingt, welche seelische Erkrankung mit höherer Wahrscheinlichkeit auftritt, aber sie geben doch ein Stück weit vor, mit welchem Charakter wir mit unserer Umwelt und unseren Mitmenschen interagieren und das hat wiederum einen Einfluss darauf, an welcher psychischen Erkrankung wir dann möglicherweise eher leiden werden, als an einer anderen.

Ebenso klar ist, dass Erfahrungen in der Kindheit sehr prägend sind. Wir wissen, dass bestimmte Strukturen, die Welt zu sehen, sich von Generation zu Generation weitergeben. Als Beispiel: Ist jemand besonders paranoid, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass die paranoide Neigung bei den Kindern auftritt, auch höher. Das gleiche gilt auch für depressive Neigungen.

Als dritter Faktor kommt die aktuelle Situation hinzu. Natürlich ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass ein Mensch eine Depression bekommt, wenn er beruflich mehrere Rückschläge erlebt hat. Oder dass jemand, der eine Situation als extrem bedrohlich empfunden hat, eher eine Angsterkrankung entwickelt. Aber ob man auf solche Ereignisse mit einer psychischen Erkrankung reagiert, ist auch von den Lebensumständen abhängig – lebe ich mit Partner, habe ich eine Familie – sowie von sozialen Bedingungen. Wir sprechen auch von bio-psycho-sozial Modellen: Es gibt die Biologie, die Psyche, die auch dadurch geprägt ist, wie wir groß geworden sind und was mit den Bezugspersonen passiert ist, und es gibt die sozialen Faktoren, die den aktuellen Lebensbedingungen entsprechen. Das zusammen kann dann bestimmte Erkrankungen begünstigen.

Kann man sich vor Depressionen schützen?

[Langes Schweigen] Ich würde sagen: Nein.

Lesen Sie im zweiten Teil des Interviews, wie man betroffene Menschen untertützen kann: Depressionen – eine heilbare Krankheit (Teil 2).

Oktober 2022. Das Interview führte Franziska Bauermeister.