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Herausforderung Pubertät – gelassen durch turbulente Zeiten

Die Pubertät ist eine große Umbruchsphase – für alle Beteiligten. Der Körper der Kinder und Jugendlichen verändert sich fast täglich, zugleich fahren die Emotionen Achterbahn. Hinzu kommt der Drang nach mehr Selbstständigkeit und Freiheit, Eltern verlieren an Einfluss und müssen sich in der Kunst des Loslassens üben, während die Teenager ihre eigene Welt entdecken.

Wie Eltern und Kinder gemeinsam gut durch diese Zeit kommen erklärt Jörg Hermann, Vizepräsident der Psychotherapeutenkammer Niedersachsen. Als Leiter der Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche und der Fachstelle Frühe Hilfen des Landkreises Wolfenbüttel weiß er um die turbulenten Zeiten – und dass das Fahrwasser irgendwann auch wieder ruhiger wird.

Das Interview entstand im August 2023 im Rahmen der Social-Media-Kampagne #eineTrachtLiebe des Niedersächsischen Sozialministeriums. Mit ihr soll auf das Recht der gewaltfreien Erziehung aufmerksam gemacht werden, das Kinder und Jugendliche haben – seit 2000 sogar gesetzlich verankert in  § 1631 BGB (2) 

 

Herr Hermann, was geht während der Pubertät in einem Jugendlichen vor?

Vorab müssen wir den Begriff „Pubertät“ genauer definieren: Die Pubertät bezieht sich eigentlich auf die körperlichen, also die biologischen Veränderungen. Wenn wir über diese Zeit sprechen, meinen wir aber meistens die Adoleszenz, die auch die psychosozialen Entwicklungs- und Veränderungsprozesse, also auch das Umgehen mit den körperlichen Veränderungen, umfasst.

Die hier stattfindenden Prozesse ermöglichen den heranwachsenden jungen Menschen dabei, die dem Alter entsprechenden Entwicklungsaufgaben anzunehmen und zu bewältigen. Es geht darum, zunehmend selbständig einen Platz in der Gesellschaft zu finden, die eigenen Fähigkeiten weiterzuentwickeln, sich beruflich zu orientieren, Stärken zu entwickeln und Schwächen auszuhalten, wenn sie nicht veränderbar sind. Und in dem, was da auf einen zukommt, Sinn zu sehen und das auch noch mit einem guten Maß an Freude. Also alles in allem eine recht komplexe Aufgabe. Mit anderen Worten: Es geht um die Aufnahme und den Aufbau intimer Beziehungen, die Entwicklung von Identität, Zukunftsperspektiven, Selbstständigkeit, Selbstsicherheit, Selbstkontrolle und von sozialen Kompetenzen. Das ist enorm anstrengend und geht nicht geräuschlos vonstatten.

Dabei befinden sich die jungen Menschen nicht nur im Würgegriff der eigenen Körperchemie, wie der Kabarettist Jochen Malmsheimer es so trefflich formulierte, sondern unterliegen eben auch deutlichen Umarbeiten an der “Leitstelle”, dem Gehirn.

Was kennzeichnet die Phase der Adoleszenz?

Es geht eben um die Bewältigung der bereits angesprochenen Entwicklungsaufgaben, die – man mag es kaum glauben – sehr viel Sinn machen und meist auch gut überstanden werden. Aber es ist auch eine Zeit des „Anfällig-seins“ für Umwelteinflüsse jedweder Art – egal ob es um Substanzen, soziale Kontakte, Medien oder sonstiges geht.

Diese Lebensphase ist geprägt durch die Suche nach Abwechslung, neuen Erlebnissen und starken Gefühlen, verbunden mit einem hohen Gesundheitsrisiko. Neue Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie und den Neurowissenschaften konnten zeigen, dass es während der Adoleszenz zu einer grundlegenden Reorganisation des Gehirns kommt. Unter anderem das limbische System sowie das Belohnungssystem entwickeln sich dabei früher, sodass sich in der Adoleszenz ein Ungleichgewicht zwischen reiferen subkortikalen und unreiferen präfrontalen Hirnstrukturen ergibt.

Häufig ist das Verhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen daher gekennzeichnet durch eine erhöhte Risikobereitschaft und Lust an extremen Gefühlen. Es ist also von einem Umbau der kortikalen Schaltkreise auszugehen, die den adoleszenzspezifischen Veränderungen in kognitiven Funktionen und in der Affektregulation zugrunde liegen könnten.

Es stimmt also, dass das Gehirn in der Pubertät komplett umgebaut wird?

Das Gehirn ist relativ früh nach der Geburt ausgewachsen, das heißt, das maximale kortikale Gesamtvolumen ist dann erreicht. Dennoch finden wichtige Reifungsprozesse in der anatomischen Struktur in der Adoleszenz statt. Das bedeutet, dass insbesondere Hirnareale, die für höhere kognitive Funktionen wie etwa die Handlungskontrolle, das Planen oder die Risikoabschätzung von Entscheidungen verantwortlich sind, später reifen als jene Areale, die mit sensorischen oder motorischen Leistungen assoziiert sind.

Und so bringt während dieser Phase nicht nur der Einfluss von Sexualhormonen den Gefühlshaushalt Heranwachsender durcheinander, sondern auch Veränderungen der Neuroanatomie des Gehirns. Insbesondere das Frontalhirn, dessen Reifung noch nicht abgeschlossen ist, kann seine hemmende Funktion nicht ausreichend entfalten. Eine Vielzahl von kognitiven Funktionen wie bewerten, sortieren, planen und modifizieren von Handlungen, lmpulskontrolle, Arbeitsgedächtnis, Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie die Regulation von Emotionen sind davon besonders betroffen.

Warum suchen Jugendliche das Risiko geradezu?

Risikoreiches Verhalten in der Pubertät kann als Ausdruck eines biologischen Ungleichgewichts zwischen der Suche nach Abwechslung und neuen Erlebnissen sowie noch nicht vollständig ausgereiften selbstregulatorischen Fähigkeiten gesehen werden.

Allerdings sind Adoleszente nicht grundsätzlich unfähig, rationale Entscheidungen zu treffen. Vielmehr nimmt in Situationen, die Gefühle hervorrufen – beispielsweise durch die Anwesenheit Gleichaltriger – die Wahrscheinlichkeit zu, dass Belohnung und Emotionen stärker die Handlung beeinflussen als rationale Entscheidungsprozesse.

Es fehlt gewissermaßen die „Spaßbremse“ im Kopf. Auch eine erhöhte Anfälligkeit für den regelmäßigen und übermäßigen Konsum von psychoaktiven Substanzen wie Alkohol, Cannabis, Methylamphetamine etc. ist darauf zurückzuführen, dass langfristige gesundheitliche und mögliche psychosoziale schädliche Folgen des Substanzkonsums oder -missbrauchs zugunsten des erwarteten und erlebten Genusses oder „Kicks“ zu wenig reflektiert und kontrolliert werden. Ein Problem dabei liegt darin, dass ein ausgeprägter Konsum von Cannabis in der Adoleszenz – stärker als bei Erwachsenen – zu dauerhaften kognitiven und hirnstrukturellen Veränderungen führen kann.

Gibt es bei der Entwicklung einen Unterschied zwischen Mädchen und Jungen?

Jungen nehmen häufiger illegale Drogen. Außerdem zeigen sie ein riskanteres Verhalten im Straßenverkehr und haben öfter Unfälle. Mädchen hingegen sind eher im Bereich Ernährung von gesundheitsgefährdenden Verhaltensweisen betroffen, wie zum Beispiel extremen Diäten und Essstörungen.

Viele Eltern berichten, dass ihre Kinder in der Pubertät ein verändertes Verhalten zeigen, wie beispielsweise langes Schlafen. Was sind die Hauptursachen für solche Veränderungen?

Das hängt mit den biologischen und psychosozialen Reifungsprozessen zusammen, die in diesem Alter einsetzen. Mit einer kleinen Analogie aus der Vogelkunde könnte man sagen: Während man kleine Kinder auch als Lerchen bezeichnet, die sehr früh aufwachen, sind Jugendliche eher Eulen – gehen spät ins Bett und stehen spät auf. Grundlage dafür sind hormonelle Umstellungen. Damit einhergehend entwickeln sich zunehmend Interessen, die eine gewisse Nachtaktivität mit sich bringen. Die deutsche Handhabung des frühen Schulbeginns ist also durchaus eine Herausforderung für Jugendliche.

Wie lange dauert in der Regel die Pubertät? Und gibt es Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen?

Man kann sagen, dass die Pubertät im Alter von zehn bis 21 Jahren stattfindet. Die sichtbaren körperlichen Veränderungen, die in dieser Zeit erfolgen, dauern in der Regel zwischen ein und fünf Jahre. Allerdings ist hier das Tempo ganz unterschiedlich, es gibt also eine große Varianz. Bei Mädchen setzt die Pubertät meist etwa anderthalb Jahre früher ein als bei den Jungen.

Veränderte beziehungsweise verbesserte Lebensbedingungen führen übrigens seit Jahren zu einem deutlich früheren Beginn der Pubertät, einhergehend auch mit einem stärkeren Größenwachstum.

Die psychosozialen und kognitiven Prozesse sind jedoch mit Ende der körperlichen Veränderungen noch nicht abgeschlossen.

Welche Ratschläge können Sie Eltern geben, um die pubertierende Phase ihrer Kinder besser zu verstehen und zu unterstützen?

Es schadet sicherlich nicht, sich entwicklungspsychologisches Wissen über diese Phase anzueignen. Es gibt empfehlenswerte Literatur, wie z.B. das Buch von Jesper Juul „Pubertät. Wenn erziehen nicht mehr geht. Gelassen durch stürmische Zeiten“.

Wichtig ist, in dieser Zeit emotionale Stabilität zu geben und sich nicht in Kämpfe verstricken zu lassen. Das bedeutet auch, dass man das Verhalten des Jugendlichen nicht persönlich nehmen sollte, selbst wenn es manchmal sehr verletzend sein kann: Hier kämpft jemand mit sich selbst und nicht wirklich mit mir. Also versuchen, Ruhe zu bewahren oder zu erlangen – falls man sie bis hierhin noch hatte.

Auch Erinnerungen an die eigene Pubertät können manchmal hilfreich sein, wenn es darum geht, Verstehen zu entwickeln. Und das Vertrauen darauf, dass alles, was man gut angelegt hat, nicht auf einmal weg ist, auch wenn es gerade verschüttet scheint und wenig sichtbar ist.

Wie können Eltern und Jugendliche gemeinsam sicherstellen, dass ihre Beziehung während der Pubertät gut bleibt?

Erstmal ist es wichtig zu akzeptieren, dass Veränderungen angesagt sind. Und dass das Gemeinsame jetzt für einige Zeit erstmal in den Hintergrund tritt. Die bis hierhin enge Bindung löst sich.

Privatsphäre und Abgrenzungswünsche sind zu akzeptieren. Dabei sollte man aber immer im Hinterkopf behalten, dass die Jugendlichen weiterhin Geborgenheit brauchen. Nur sind sie nun dabei, Erfahrungen zu machen, wie man sich diese außerhalb des Elternhauses in Beziehungen zu Gleichaltrigen organisieren kann. Das läuft normalerweise nicht ohne Reibung und Hindernisse ab. Die damit einhergehende Wegbewegung von den Eltern ist wichtig, denn sonst funktioniert das Vorhaben nicht. Sollte die Geborgenheit aber zwischendurch bei den Eltern gesucht werden, ist es gut, wenn die dafür offen sind und sich nicht selbst wie eifersüchtige Teenager verhalten. Vorübergehende empfundene Distanzierungen zwischen Eltern und Jugendlichen gehören also dazu.

Welche Rolle spielen externe Einflüsse wie Freunde, Medien und soziale Netzwerke in der Pubertät? Wie können Eltern damit umgehen?

Diese Dinge haben einen großen Einfluss, und das ist auch okay. Denn es entspricht den Entwicklungsaufgaben des Jugendalters und den damit verbundenen Reifungsprozessen, dass eine Orientierung in Richtung Peers entsteht und sich damit einhergehend eine Ablösung und zunehmende Unabhängigkeit von den Eltern entwickeln kann.

Eltern können diesen Prozess durch wohlwollendes Begleiten unterstützen. Sie können sich informieren und vor allem weiter an ihren Kindern interessiert sein. Und sie können darauf vertrauen, dass der Einfluss, den sie in den ersten zehn Jahren hatten, Wirksamkeit entfaltet – auch wenn es in diesem Lebensabschnitt oft nicht sichtbar ist.

Wie können Eltern ihre Kinder dazu ermutigen, offen über ihre Gefühle und Herausforderungen in der Pubertät zu sprechen?

Sie können die sich entwickelnden Beziehungen zu Gleichaltrigen zur Kenntnis nehmen und sich uneitel ein Stück zurücknehmen. Gleichzeitig sollten sie sich weiter für ihr Kind interessieren und dabei den Umstand aushalten, dass das manchmal als Neugier und Kontrolle interpretiert wird. Wobei elterliche Ausdauer und das Aushalten von Zurückweisungen hilfreich sind: Ernsthaftes Interesse auf der Basis von Empathie und Akzeptanz kommt in der Regel an.

Welche ermutigenden Worte können Sie Eltern mit auf den Weg geben, die sich vielleicht gerade in den herausfordernden Jahren der Pubertät ihrer Kinder befinden?

Bei allen Herausforderungen, die diese Zeit mit sich bringt, hat es sich bewährt, wenn man sein Kind auch in dieser Phase weiter lieb hat und das auch zeigt – trotz aller Sorgen und Ängste, die man manchmal aushalten muss. Spätestens wenn dieses positive Gefühl droht abhanden zu kommen, ist es sinnvoll, professionelle Hilfe, zum Beispiel durch eine Erziehungsberatungsstelle, in Anspruch zu nehmen. Hier kann man Entlastung und Unterstützung, manchmal auch konkrete Anregungen erhalten, um wieder auf einen sichereren Pfad zu gelangen.