Sozialmedizin
Mit dem im Jahr 2020 in Kraft getretenen Gesetz für bessere und unabhängigere Prüfungen – MDK-Reformgesetz – wurde die bis dahin Ärzt:innen vorbehaltene sozialmedizinische Begutachtung für weitere Heilberufe geöffnet. Viele Landeskammern haben seitdem den Bereich Sozialmedizin in ihre Weiterbildungsordnungen aufgenommen, um ihren Mitglieder diesen Titel zu ermöglichen. Gleichwohl tauchen immer wieder grundlegende Fragen auf, was Sozialmedizin denn eigentlich sei und warum Psychotherapeut*innen sich damit befassen sollten.
Auf diese Fragen geht Prof. Dr. Beate Muschalla ein. Sie leitet die Abteilung Klinische Psychologie, Psychotherapie und Diagnostik an der Technischen Universität Braunschweig und ist Weiterbildungsermächtigte für den Bereich Sozialmedizin. Im Rahmen der Konzeption des Theorie-Curriculums entstand dieses Interview.
Liebe Frau Muschalla, womit befasst sich „Sozialmedizin“ eigentlich alles?
Die Sozialmedizin ist ein interdisziplinäres Grundlagenfach der Humanmedizin. Gegenstand sind die Wechselwirkungen zwischen Krankheit, Gesundheit, Mensch/Patient und Gesellschaft, aber auch den Organisationsstrukturen des medizinischen Versorgungssystems.
Sozialmedizin ist nicht etwas, was „ein“ „Arzt“ ausübt, sondern es sind oftmals verschiedene Heilkundler und Co-Therapeuten beteiligt. Patientenbezogen sind typische sozialmedizinische Ziele die Vermeidung oder Bewältigung chronischer Erkrankungen und Teilhabestörungen. Dazu gehören einerseits Diagnostik und Behandlungen, die die Langzeitperspektive der Erkrankung berücksichtigen, aber auch Kontextaspekte, wie die sozialrechtlichen Absicherung, bspw. bei Menschen mit krankheitsbedingter Leistungsunfähigkeit für den Arbeitsmarkt. Im Rahmen sozialmedizinischer Begutachtungen kann es um Fragen der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit gehen, Berufsförderung, oder soziale Teilhabe wie selbständige Wohnfähigkeit oder spezielle Hilfebedarfe.
Wie kam es dazu, dass Sie sich für das Thema Sozialmedizin interessieren?
Während meines Psychologiestudiums absolvierte ich mein Praktikum in einer Psychosomatischen Rehabilitationsklinik. Hier werden Patienten mit chronischen Erkrankungen behandelt und es ist in jedem Fall auch eine Einschätzung zur Arbeits- und Leistungsfähigkeit der Patienten abzugeben. Ich lernte von Beginn an sozialmedizinische Aspekte bei allen Patienten zu berücksichtigen: Wie wird sich der Krankheitsverlauf gestalten, vor dem Hintergrund der Anamnese und was bisher behandlungsbezogen geschah?
Wir haben in Untersuchungen gefunden, dass 80% der Patienten mit psychischen Erkrankungen in Hausarztpraxen und bei Psychotherapeuten „chronische“, d.h. andauernde und wiederkehrende Erkrankung haben, und dass sie in den meisten Fällen bereits vielfach und verschiedene Hilfen gesucht haben, bevor sie bspw. zum Psychotherapeuten kommen.
Symptomorientierte Remission der einzelnen depressiven Episode bei einer 45jährigen Patientin wäre vor dem Hintergrund ihrer Langzeiterkrankung (die Patientin kennt die Probleme seit sie 18 ist) zu kurz gedacht. Wichtig wäre herauszufinden, wie es gelingen kann, dass zukünftige Episoden möglichst wenig schwere Krankheitsfolgen (Jobverlust, Partner- und Familienprobleme) mit sich bringen.
Ich habe früher Sozialmedizin in der Medizinerausbildung unterrichtet, dort gab es während des Studiums in sehr wenigen Fällen Interesse an diesem Bereich. Gleichwohl haben mir später langjährig tätige Ärzt*innen immer wieder berichtet, wie wertvoll sozialmedizinische Grundkenntnisse sind und sie sich im Nachhinein ärgern, das nicht früher beachtet zu haben. Wie erleben Sie das bei Psychotherapeut*innen?
Eigentlich wird sozialmedizinisches Denken überall gebraucht: ob bspw. ein Patient mit Herzinsuffizienz aus der Kardiologie in die Häuslichkeit entlassen werden kann, hängt auch davon ab, ob er in der 5. Etage ohne Aufzug wohnt, oder im Erdgeschoss.
Sozialmedizinisches Denken, also Versorgungskoordination und Langzeitperspektive, sollte in der Ausbildung von Beginn an als eine Selbstverständlichkeit vermittelt werden. In dem neuen Psychologiestudiums-Curriculum findet man Ansätze in den Modulen „Prävention und Rehabilitation“.
Unsere Absolventen berichten regelmäßig, dass sie z.B. ihr Wissen um chronische Erkrankungen, Arbeitsängste, oder einen Fähigkeitsbefund bei ihren ersten praktischen Einsätzen als sinnvolles Handwerkszeug gebrauchen können.
Die Langzeitbehandlung erfordert ein anderes Verständnis und anderen Behandlungsfokus als nur „akute Symptome beseitigen“. Dieses Verständnis für Langzeiterkrankungen und die Beachtung der Kontextfaktoren und Krankheitsfolgen kommen in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung inzwischen in die Gänge. Auch in Leitlinien findet man mittlerweile schon etwas zu Krankheitsfolgeproblematiken, z.B. zu Arbeitsunfähigkeit.
Wo sehen Sie klassische Anwendungsfelder für psychotherapeutische Sozialmedizin?
Behandlung: Psychotherapie unter der Perspektive der Langzeitbehandlung und Versorgungskoordination, d.h. den Patienten fit machen zum Selbstmanagement für seine Problematik, Anbindung an die ambulante Primärversorgung mit Langzeitperspektive (z.B. Hausarzt), soziale Korsettierung (z.B. Angehörigenedukation bei Patientin mit bipolaren Stimmungsschwankungen).
Begutachtung: Sozialmedizinischen Begutachtungen zu Fragen der psychischen Arbeits- und Leistungsfähigkeit.
Warum sollten sich Psychotherapeut*innen mit dem Thema befassen? Es heißt doch explizit Sozial-„Medizin“?
Wie oben erläutert: Es geht um „Medizin“ und nicht um „Mediziner“. An sozialmedizinischen Fragestellungen und Behandlungen sind in koordinierter Vorgehensweise verschiedene Berufsgruppen beteiligt: je nach Erfordernissen im Einzelfall Ärzte, Psychotherapeuten, Sozialarbeiter, Ergotherapeuten, Bewegungstherapeuten, u.v.m.
Wo sehen Sie Probleme, die durch mangelnde sozialmedizinische Kenntnisse entstehen? Welche Berührungspunkte haben niedergelassene Therapeut*innen mit Sozialmedizin?
Probleme kann es bspw. geben, wenn Patienten lange arbeitsunfähig bleiben, und sich durch Vermeidungsverhalten Ängste verschlimmern, weil sich der Behandler nicht für die Arbeitsfähigkeit und eine berufliche Wiedereingliederung interessiert, oder meint, dafür sei der Arzt zuständig, oder gar den Gedanken fördert, Arbeit mache krank.
Sozialmedizinische Handgriffe gibt es eigentlich in jeder Behandlung: Vorbefunde einholen, diagnostische Entscheidungen abwägen, mit Mitbehandlern oder ggf. Arbeitgebern telefonieren, bei Therapieende eine Epikrise mit in der Psychotherapie erarbeiteten Handlungsleitsätzen an den Primärbehandler versenden – das sind nur ein paar der täglichen Aktivitäten die – auch über den bloßen Patientenkontakt hinaus – wichtig sind, um eine gute Langzeitperspektive für den Patienten zu ermöglichen.